Wohnen und Leben

Wohnen und Leben

„Ändert das Leben! Ändert die Gesellschaft! Diese Ideen werden völlig bedeutungslos, wenn kein Raum produziert wird, der dem neuen angemessen ist.“
(Henri Lefebvre)

Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 impliziert u.a. ein „Recht auf Wohnen“. Dieses ist demnach als ein Menschenrecht der zweiten Generation völkerrechtlich anerkannt, kann aber bislang nicht juristisch durchgesetzt werden. Als erstes EU-Land eröffnete Frankreich 2008 seinen Bürgern die Möglichkeit, das Recht auf eine Wohnung einzuklagen. In der Folge kam es vor dem Pariser Verwaltungsgericht zu Tumulten zwischen der Polizei und Obdachlosen, die ihren Rechtsanspruch wahrnehmen wollten. Die Probleme konnten nicht gelöst werden. Die Kommunen und Gemeinden zahlen bis heute lieber horrende Strafzahlungen an den Staat, als ihrer Verpflichtung nachzukommen, ausreichenden Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Für Deutschland ermittelte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zwischen 2014 und 2017 einen Anstieg der Obdachlosen um 33 Prozent auf nunmehr 52.000 Menschen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben. Eigenartigerweise handelt es sich dabei nicht um amtliche Zahlen, sondern um Schätzwerte. Obdachlosigkeit wird in Deutschland nämlich nicht statistisch erfasst (keine Statistik = kein Problem). Die Erhebung offizieller Zahlen wird von den zuständigen CSU-Bundesministern seit jeher mit den immer gleichen Argumenten zurückgewiesen: Großer Aufwand, schwierige Zählerei, begrenzte Aussagekraft. Erstmals soll nun im April 2020 ein “ Gesetz zur Einführung einer Wohnungslosen-berichterstattung sowie einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen“ auf den Weg gebracht werden. Bisweilen bleibt es beim Status Quo: Jeder Einzelne muss selber sehen, wo er bleibt. Wo sein Platz im Leben, in der Gesellschaft, in der Stadt ist. Oder eben auch nicht. In den meisten deutschen Metropolen ist Wohnungssuche zu einem unwürdigen Konkurrenzkampf verkommen: Einer Bewerbungsprozedur folgt (eventuell) die Begehung, bzw. Besichtigung. Wie in einem schlechten Casting wird alsdann um die Wette geheuchelt, geschleimt und gekatzbuckelt. Arbeitsvertrag, Schufa-Eintrag, Führungszeugnis und andere Referenzen sind vorzulegen, Kaution, Provision und Schmiergeld auszuhändigen. Das ist nicht schön, aber könnte das nicht alles auch ganz anders sein?

Das Problem ist, dass das Grundrecht Wohnen, also ein existenzielles soziales Gut zu einer Ware verkommen ist. Der Umstand, dass der Bedarf das Angebot bei weitem übersteigt, wird von zweifelhaften Immobilien-Investoren, skrupellosen Holdings und leider viel zu vielen Haus- und Grundbesitzern gnadenlos ausgenutzt. Hier gilt es gegenzusteuern und das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie durchzusetzen. Wohnen ist als integrierter Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge zu verstehen und darf entsprechend nicht dem Diktat der Marktgesetze unterworfen sein. Ohne staatliche Eingriffe kann es kein menschenwürdiges Wohnen für alle geben: Zweckentfremdungen, Eigenbedarfskündigungen und Verdrängungen über die Modernisierungsumlage sind inakzeptabel. Die Deckelung von Mieten, das Absenken der Kappungsgrenze und ein Ausbau des Kündigungsschutzes sind naheliegende gesetzgeberische Maßnahmen. Vorkaufsrechte für die Kommunen, städtische Konzeptvergaben und weniger Umwidmungen von Miet- in Eigentumswohnungen wären weitere probate Mittel. Der sogenannte Milieuschutz, der sich aus dem Baugesetzbuch ableitet, hilft Städten wie Hamburg, München und Berlin gewachsene Quartierstrukturen zu erhalten, und ist geeignet, Luxus-Modernisierungen einen Riegel vorzuschieben.  Auch die etablierten, tendenziell mietsteigernden Instrumentarien (Mietspiegel und ortsübliche Vergleichsmiete) bedürfen einer Neujustierung. Denn die Neuvertragsmieten von heute sind die Bestandsmieten von morgen. Der Mietspiegel berücksichtigt beispielsweise nur Mieten, die sich in den letzten vier Jahren verändert (also üblicherweise erhöht) haben oder neu abgeschlossen wurden. Jede Mieterhöhung drückt den Vergleichswert ein bisschen höher, und ein höherer Vergleichswert rechtfertigt wieder neue Mieterhöhungen – wieder und wieder und wieder. Eine sich gnadenlos beschleunigende Teuerungsspirale.

Wohnungsnot ist ein fatales Faktum, auch wenn die politisch Verantwortlichen lediglich „marktübliche Bereinigungen“ oder „vorübergehende Engpässe“ einräumen. Sie ist ebenso ein Skandal, wie die Miethöhe, die ein historisches Rekordniveau erreicht hat. Ursächlich hierfür sind gewissenlose Gier und moralische Verkommenheit, welche eigentlich grundgesetzlich eingedämmt gehören. Aber die Artikel zum Eigentums- und Vergesellschaftungsrecht bleiben chronisch unangewandt (Art. 14, 15 GG). Dennoch stehen Bund, Länder und Gemeinden in der Verpflichtung, das Bedürfnis der Bürger nach ausreichendem bezahlbarem Wohnraum in guter Qualität zu erfüllen. Es wurde in den vergangenen Jahrzehnten versäumt, in sozialen und öffentlich geförderten Wohnungsbau nach sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Standards zu investieren – das rächt sich nun. Schlimmer noch: Der Staat hat seine Steuerungsmöglichkeiten nicht nur sträflich vernachlässigt, er hat eine umfassende Plünderung des öffentlichen Wohnungsbauvermögens und des gesellschaftlichen Wohnungsbestandes zugelassen. Um kurzfristig Liquidität zu erzeugen, wurden hunderttausende von Wohneinheiten an zu Recht so verrufene Hedgefonds und Private-Equity-Konsortien wie Whitehall, Annington, Fortress oder Cerberus verschleudert – mit den hinlänglich bekannten Folgen. Bekanntermaßen meint Privatisierung nichts anderes als Diebstahl öffentlichen Eigentums – immer zu Gunsten des Investors, immer zu Lasten der Allgemeinheit! Die Erlöse aus Wohnungsweiterverkäufen wurden übrigens von der rot-grünen Bundesregierung im Jahre 2000 steuerfrei gestellt. Einige Jahre später konnte der Verkauf der GAG- und Grubo-Wohnungen in Köln, nur denkbar knapp verhindert werden. Wer sich näher mit dieser perfiden Problematik beschäftigen möchte, dem sei das Buch „Privatisierung in Deutschland – eine Bilanz“ von Werner Rügemer empfohlen (Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2006). Auch die verheerenden Folgen von Cross Border Leasing, Public Private Partnership und anderen Geschäftsmodellen werden hier gnadenlos analysiert.

Den zurzeit verfügbaren 1,5 Millionen Sozialwohnungen in Deutschland stehen ca. sechs Millionen Anspruchsberechtigte gegenüber. Diese Lücke zwischen Angebot und Bedarf wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen, da bei rund 100000 Wohnungen im Jahr die Mietpreis- und Belegungsbindungen auslaufen und diese anschließend auf dem sogenannten freien Markt landen. Die verschwindend geringen Fördersummen wurden in den vergangenen Jahren zudem zu 40 Prozent zur Finanzierung von Eigentumswohnungen missbraucht. Da der Markt ein natürliches Interesse daran hat, dass günstige Wohnungen ein knappes Gut bleiben, sollte der lang gehegte Grundsatz „Sozialer Wohnungsbau durch private Investoren“ dringend auf den Prüfstand. Wollte man den Wohnungsbau ernsthaft dynamisieren, müsste man ihn systematisch subventionieren und nicht nur punktuell kreditieren. Die Kommunen müssen endlich wieder in die Lage versetzt werden, selber zu bauen. Die zur Verfügung stehenden Fördermittel von Bund und Land sollten konsequent abgerufen, die kurzsichtige Verschleuderung von Grund und Boden, also kommunalem Bauland, radikal eingestellt werden (sozialgerechte Bodennutzung). Auch die vielerorts bestehenden Leerstände in städtischen Gewerbe- und Büroimmobilien könnten kurzfristig für den Wohnungsbau um genutzt werden. Das Amt für Gebäudewirtschaft weist beispielsweise für Köln 200 Objekte mit stadteigenen Leerstandsflächen von 49000 Quadratmetern aus, der private Sektor ist noch weitaus üppiger ausgestattet. Zahllose Objekte stünden mindestens zur Zwischennutzung für soziale, kulturelle oder ökologische Projekte zur Verfügung. Neben solchen Sofortmaßnahmen, lohnt sich der Blick ins benachbarte Ausland, vorzugsweise nach Österreich. Schon in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte die Stadt Wien Maßstäbe, als sie gegen den grassierenden Mietwucher ein umfängliches Bauprogramm aufgelegt hat. Innerhalb von zehn Jahren konnten im Rahmen des Wiener Gemeindebaus 50000 Wohnungen in Eigenregie realisiert werden. Noch heute leben 60 Prozent der Wiener*innen in gut erhaltenen öffentlichen oder genossenschaftlichen Wohnungen, Graz, Linz und Klagenfurt erreichen ähnliche Quoten. Das „European Housing Forum“ hat unlängst ein Bauprojekt in der Salzburger Innenstadt als bestes Praxisbeispiel ausgezeichnet: Hochwertige Wohnungen in zentraler Lage für einen Quadratmeterpreis von 4,78 Euro bei unbegrenzter Sozialbindung! Die Stadt hat den Bau über gemeinnützige Fonds finanziert, in die das Geld über die Mietzahlungen zurückfließt, bis die Investition getilgt ist. Da man keine Banken und renditeorientierte Investoren bemüht hat, konnten die Kosten um 40 Prozent gesenkt werden. Geht doch.

Besonders frappierend stellt sich das Thema Wohnen für Erwerbslose (gemäß SGB II) und Bezieher von Grundsicherungsleistungen (SGB XII) dar. Hier ist die Kommune verpflichtet, die anfallenden Kosten für Miete und Heizung, sowie Neben- und Betriebskosten zu übernehmen. Es hat sich dafür das Kürzel „KdU“ – also Kosten der Unterkunft eingebürgert. Mal abgesehen davon, dass Unterkunft ähnlich verheißungsvoll wie Baracke, Bude oder Loch klingt, werden in der Regel aber nicht die tatsächlichen Aufwendungen übernommen, sondern lediglich jene, die das Amt für angemessen hält. Es gelten die sogenannten KdU-Richtlinien, in denen Mietobergrenzen festgelegt werden. Diese haben aber in der Regel mit den realen Mieten nicht viel zu tun, sind also viel zu niedrig festgesetzt. Die Differenz wird in der Regel vom Arbeitslosengeld abgezogen, was die Verarmung noch weiter manifestiert. Diese Praxis ist äußerst fragwürdig und dementsprechend Gegenstand abertausender Klagen vor den Sozialgerichten dieser Republik. Unter 25jährigen Erwerbslosen ist es sogar untersagt, auszuziehen. Diese systematische Untergrabung von  Menschenwürde, Freizügigkeit und weiterer grundgesetzlicher Persönlichkeitsrechte ist kennzeichnend für das ganze Hartz-Machwerk und sollte dringend überwunden werden. Eine Politik, die Erwerbslose und Arbeitssuchende nicht nur an den Rand der Gesellschaft, sondern buchstäblich an den Rand der Stadt verdrängt, muss dringend gestoppt werden. Sie ist beschämend und wenig sozial, da sie Ausgrenzung, Zwangsumzüge und Ghettoisierung befördert und mit dem Verlust von vertrauten Strukturen, gesellschaftlichen Netzwerken und gewachsenen Lebensqualitäten einhergeht.

Verschärft wird diese Misere durch den nahezu völligen Niedergang des sozialen, öffentlichen und städtischen Wohnungsbaus – bei gleichzeitigem Immobilienboom im privaten Sektor. Dieser Widerspruch ist nicht hinnehmbar. Tatsächlich sind rege Bautätigkeiten in den Metropolen zu beobachten, allerdings kommt da meist nichts Gutes bei raus: Hotelanlagen, Bürobauten, Einkaufszentren, Eventarchitektur, Vergnügungsstätten sowie diverse Anlageobjekte sind wenig geeignet, das Wohlbefinden der Bevölkerung objektiv oder subjektiv zu steigern. Nicht die menschlichen Bedürfnisse werden befriedigt, sondern die System-Bedürfnisse. Wenn aber die ökonomische Zuwachsrate das ausschlaggebende stadtentwicklungspolitische Entscheidungskriterium ist, Kapital- und Profitinteressen vorrangig vorangetrieben werden, dann bleibt das nicht folgenlos. So entstehen konsequenterweise gesichts- und seelenlose Dienstleistungsmetropolen, in denen trefflich gehandelt und konsumiert, aber nicht mehr als nötig gewohnt werden soll. Glas-, Stahl- und Chrom-Ästhetik hat mit Lebensqualität in der Regel wenig zu tun. Gutes Wohnen meint eben mehr, als die rein wirtschaftliche Möglichkeit der Teilhabe. Es muss auch demokratische Gestaltungsmöglichkeiten geben, die ein solidarisches Miteinander und ein verantwortungsvolles Nutzen der Ressource Raum befördern. So gibt es inzwischen zahlreiche unter den Begriffen „Recht auf Stadt“ oder „Wohnraum für alle“ kursierende Konzepte, die sich der vorherrschenden neoliberalen Stadtentwicklungspolitik diametral entgegen stellen. Tendenziell zielt dies auf die praktische Aneignung von Raum und Gestaltungsmacht über städtische Prozesse und nachbarschaftliche Entwicklungen. Vor allem in Hamburg und Berlin haben es Initiativen von Bürgern und Mietern zeitweilig geschafft, die fortschreitende Gentrifizierung mindestens zu verlangsamen und Investoren und Kapitalanleger in die Defensive zu drängen. Urbanität meint eben auch Heterogenität – Buntheit, Vielfalt und auch ein Stück weit Widerständigkeit. Sonst fliegen wir früher oder später alle raus. Und das darf nicht sein.